Provokantes Thema! Nur eine Glosse?
Blicken wir doch mal auf den Wandel im Leben von ganz vielen Bewohnern im nunmehr schon 50 Jahren alten Stadtteil Herzogenried zurück. Im Rahmen von „Wohnen im Grünen“ zur Bundesgartenschau 1975 geplant, gebaut und bezogen, war hier alles noch ganz neu. Die Einwohner genossen die Nähe zum neu gestalteten Herzogenriedpark mit seinen vielen Freizeitmöglichkeiten, in den die „Neuankömmlinge“ freien Eintritt hatten, aber auch die Nähe zu den umliegenden Wohn- und Geschäftsvierteln und zur Innenstadt. Es bestand von Anfang an ein Anschluss an das Bus- und seit einigen Jahren auch an das Straßenbahnnetz. Für jede Wohnung existiert ein Stellplatz in einem nahegelegenen Parkhaus. Außerhalb des Herzogenriedparks existieren unzählige Grünflächen, Grünanlagen, Spielplätze, Treffpunkte, Bänke und neuerdings auch ein „Herzogenwald“ mit vielen Bäumen, darunter sogar Ostbäume, von denen die Einwohner auch essen dürfen. Eine wenig versiegelte Wohn- und Lebensinfrastruktur.
Gerne lebte man hier, zusammen mit den Nachbarn, mit denen man langsam immer besser vertraut wurde (jedenfalls mit den allermeisten) und es entstanden gute Nachbarschaften und ein ausgeprägter Gemeinschaftssinn. Man half sich gegenseitig, oder ließ sich nötigenfalls auch vom lokalen Hausmeister-Service helfen und feierte nebenbei auch das eine oder andere Festchen gemeinsam. Ein kleines „Paradies“ mitten in Mannheim! Es galt als ein besonderes Prestige in Mannheim, hier zu wohnen. Das konnte sich leider nur nicht Jedermann leisten.
Das alles änderte sich langsam, aber stetig, im Laufe der Jahre. Die Häuser wurden älter, Fassaden und Putz begannen zu bröckeln, an den Grünanlagen und Spielplätzen begann auch der Zahn der Zeit zu nagen, die Ansprüche der Bewohner nahmen zu, und der Unterhalt der Infrastruktur wurde teurer. Die ersten Bewohner zogen weg. Ganz langsam, in den letzten Jahren aber immer schneller änderte sich die Sozial-Struktur. Die Einwohner wurden einerseits älter – viele waren als junge Familie mit Kindern zugezogen, was auch viele Familien verband, und inzwischen sind die meisten Kinder im Erwachsenenalter wieder weggezogen. Viele neu Zugezogene hatten andererseits oft schwierige Lebensverhältnisse und andere Vorstellungen vom Leben. Man fand nicht mehr so einfach zueinander. Da war es gut, dass es als Nachfolgerin des Bürgervereins Herzogenried seit 2007 die Interessensgemeinschaft Herzogenried (IGH) gab, um dem entgegenzuwirken. Zuvor schon wurde 2004 das Quartiermanagement gegründet.
Ab den 90ger Jahren nahm der Migrationsanteil im Quartier zu und erreichte bis 2023 laut der kommunalen Statistikstelle Mannheim 62,7% der insgesamt 7.718 Einwohner aus mehr als 127 Herkunftsländern. Es entstand eine neue Bewohnerstruktur und das Thema Nachbarschaft verlor besonders in einigen Hochhäusern und in ihrem direkten Umfeld zunehmend an Bedeutung. Das hatte unweigerlich auch Einfluss auf das soziale Leben in den Vierteln des Herzogenried mit besonders hohem Migrationsanteil. Andererseits hat dieser hohe Anteil den Gedankenhorizont und das Zusammenleben vieler Nachbarschaften erweitert. Man tauschte Meinungen untereinander aus, hörte sich gegenseitig zu, suchte gemeinsam nach Lösungen, begann sich gegenseitig immer mehr zu schätzen und trug so automatisch zur multikulturellen Integration und guten Nachbarschaft bei.
Die heute 50 Jahre alten Gebäude wurden von den Wohnungsbaugesellschaften zwar permanent gewartet, entsprachen aber nicht mehr den aktuellen Standards des gehobenen Wohnungsmarktes, wo neben gut geschnittenen Wohnungen auch „Bequemlichkeiten“ wie ein zweiter Fahrstuhl in Hochhäusern, eine ansprechende Fassadengestaltung / -begrünung oder die Ausstattung der Flachdächer mit Photovoltaik, usw. erwartet werden. Andererseits forderte der Wohnungsmarkt zwischenzeitig aber auch einen wachsenden Anteil von Wohnungen, die nur an Menschen mit geringem Einkommen vermietet werden durften.
Die Bedürfnisse differenzierten sich zunehmend zwischen Jung-Alt, Arm-Wohlhabend und Mit-Ohne Migrationshintergrund. Vereinsamung und das Zurückziehen in die eigenen vier Wände wurde manchmal durchaus ein Thema. Egoismus, Anspruchsdenken und Nachlässigkeit nehmen seit Jahren in einigen Vierteln immer mehr zu. Die Auswirkungen im genannten Umfeld sind ein oftmals wachsender Vandalismus und eine Tendenz zur Vermüllung. Dass das in anderen Stadtteilen auch stattfindet, vermindert nicht die Wichtigkeit des Problems, sondern zeigt nur, dass hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe angepackt werden muss.
Dazu kommt bei vielen Menschen in den letzten Jahren die Absolutsetzung der eigenen Meinung, die Missachtung von Fakten und die Verweigerung von ernsthaften Diskussionen oder Gesprächen. Das unterstützt die Polarisierung und die Spaltung unserer Gesellschaft immer weiter. Natürlich auch in unserem Stadtteil.
Die sichtbaren Auswirkungen hier im Herzogenried sind unter anderem an einigen Stellen immer wieder vor den Müllcontainern abgestellte Müllsäcke (gerne auch mit eigenem Müll vor fremden Containern), in bei den umliegenden Supermärkten gestohlenen Einkaufswägen.

Das verschlimmert zusätzlich das aktuell bestehende Müllproblem

und die daraus resultierende Rattenplage.

Ratten können übrigens über die Kanalisation und an Fassaden mehr als 5 Etagen hochklettern. Offenstehende Haustüren ermöglichen es Ratten ebenfalls in Häuser einzudringen, wohin sie unter anderem auch durch im Treppenhaus entsorgten Müll angelockt werden.

Hier sind wirklich alle Bewohner gefordert. Wir, jeder einzelne von uns, kann hier seinen persönlichen Beitrag zum Umwelt- und Menschenschutz leisten. So räumen bereits ausdauernd und geduldig einige Hausbewohner anderen regelmäßig den Müll hinterher, oder es kämpfen „Müllpaten“ unermüdlich mit Pizzakartons, Kaffeebechern, Getränkedosen und -tüten, oder anderem, achtlos weggeworfenen Müll. Leider haben aber immer noch viele die Erwartungshaltung, dass andere ihnen den Müll wegräumen. Sätze wie: „Die Miete ist so hoch, da kann man doch erwarten, dass Menschen angestellt werden, die regelmäßig alles sauber machen“ machen unreflektiert die Runde.
Hoffnungslos? Bei Weitem nicht! Neben den oben schon genannten immer stärker werdenden multikulturellen, guten Nachbarschaften sind parallel nämlich die Bestrebungen und Angebote der Vereine, Interessengemeinschaften und lokalen Institutionen ebenfalls gewachsen und zeigen ihre Wirkung. Und zwar gewaltig! Schauen wir uns dazu beispielsweise einmal die lokalen Seiten der nun schon in 65 Ausgaben vorliegenden herzog*in an. Alle diese Zeitungen werden übrigens ehrenamtlich von Mitgliedern der Interessengemeinschaft Herzogenried erstellt und von ihnen kostenlos an die Haushalte im Herzogenried verteilt. Neuerdings kann man sich auch auf der neuen Homepage des Herzogenrieds www.herzogenried.de über aktuelle gemeinsame Aktivitäten, Veranstaltungen und lockere Treffen informieren. Auch die Internetseite wird ehrenamtlich und kostenlos erstellt und gepflegt. In beiden Medien findet man unzählige Angebote, wie man Nachbarschaft und Gemeinschaft erleben und pflegen kann. Einfach mitmachen!
Denn auch das ist Umweltschutz: Wenn jeder nicht nur auf sich selbst schaut, sondern zumindest aus dem Augenwinkel auch auf seine Nachbarn und sein Umfeld, dann können wir den stellenweise negativen Teil der oben geschilderten 50 Jahre Herzogenried durchaus wieder etwas kleiner und damit die „menschliche Nachhaltigkeit“ wieder etwas größer machen.
Fotos und Text: Michael Baier