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    „Wie ist das, wenn man sein Leben lang nur träumt?“ Merve Uslu-Ersoy in der Stadtbibliothek Herzogenried

    Von den rund 87.000 Menschen, die zwischen 1961 und 1973 aus der Türkei zur Arbeit nach Deutschland kamen, waren rund ein Drittel Frauen.
    Und diese Frauen waren keineswegs alle ‚Familiennachzug‘ der männlichen Gastarbeiter, sondern viele kamen ausdrücklich angeworben von deutschen Firmen aus der Textil- und Nahrungsmittelwirtschaft oder für die Arbeit am Band.

    Merve Uslu-Ersoy, die Leser*innen vielleicht als Moderatorin beim Neujahrsempfang 2025 im Rosengarten kennen, hat über zwei dieser Frauen einen Dokumentarfilm gedreht. Es handelt sich um ihre Großmütter, Fehir Ceylan und Pakize Uslu.

    Ankommen und Arbeiten in Deutschland

    Sie kamen beide als junge Frauen aus dem Südosten der Türkei nach Deutschland, Fehir Ceylan 1969 nach Bremen und Pazike Uslu 1966 nach Detmold. Ihre Männer arbeiteten beide schon in Deutschland.
    Beide Frauen arbeiteten über die Jahre in Firmen wie der Textilfabrik Runken in Bremen, der Möbelfirma Grachten in Detmold, Nordmende, einer Firma Hövele, die u.a. Markisen herstellte, dem Hegehof und als Verkäuferin in den miniMal Märkten der REWE Gruppe.

    Pakize Uslu erlebte dabei in kleineren Firmen Arbeitszeiten von Frühmorgens bis 22:00 Uhr, Tage, an denen sie zu Hause von der Küche sofort ins Schlafzimmer ging und bei denen die schwere Handarbeit beim Markisennähen ihre Knochen stark belastete.
    Aber das Nähen an den elektrischen Nähmaschinen liebte sie und sie nähte in der Mittagspause Taschen, die sie heute noch besitzt. In späteren Jahren wurde sie aufgrund ihrer guten Arbeit Vorarbeiterin und leitete neue Mitarbeiterinnen an. Ihre Arbeit ermöglichte ihr Unabhängigkeit und größere Freiheit in ihrer Ehe, und so wollte sie das auch.
    Auch Fehir Ceylan wollte arbeiten und trotz Haushalt und Kindern nicht zu Hause bleiben. Sie sah Nachbarinnen, die zu Hause blieben und abhängig von ihren Männern waren. Das wollte sie auf keinen Fall.
    Beide Frauen hatten keine Deutschkenntnisse, als sie in Deutschland ankamen und bekamen in den 60er Jahren auch keine Unterstützung, deutsch zu lernen. Sie mussten sich alles mühsam selbst erarbeiten. Trotz aller Mühen und Anstrengungen – Pakize Uslu fragt sich heute immer wieder, wo sie die Kraft hergenommen hat für all die Arbeit – wollten sie die Arbeit in Deutschland nicht aufgeben. Sie arbeiteten für ein besseres Leben in der Türkei, für sich, für ihre Familie dort und nicht zuletzt für ihre Kinder.

    Kinder – zurückgelassen und vergessen?

    Fehir Ceylan

    Sie wollten eine bessere Zukunft für ihre Kinder und mussten gleichzeitig erleben, dass ihre Kinder in der Türkei bei Familienmitgliedern zurückblieben, während sie selbst in Deutschland arbeiteten. Einem Drittel bis der Hälfte der Gastarbeiterinnen ging es so.
    Für diese Kinder führte Maria Papoulias 1985 den Begriff „Kofferkinder“ ein. Er bezeichnet Kinder von Arbeitsmigrant*innen, die oft über lange Jahre wie Koffer von ihren Eltern mitgenommen, wieder abgestellt und wieder mitgenommen wurden. Wie Koffer eben.
    Aber in Deutschland gab es in der Regel niemand, der auf die Kinder aufpassen konnte, wenn die Mütter auf Arbeit waren, und deshalb bissen die Frauen in den sauren Apfel, litten unter der Trennung und träumten davon, ihre Kinder in die Arme zu schließen. „Tagsüber fiel es mir nicht so auf, aber am Abend vermisste ich ihn schmerzlich“ sagt Pakize Uslu. Sie ist noch heute den Tränen nahe, als sie das erzählt. Erst als er 7 Jahre alt war, holte sie ihren Sohn nach Detmold. Er war dann in einer türkischen Einführungsklasse und kam in der 4. Klasse in die deutsche Grundschule. „Eine schwierige Zeit ist es gewesen“, erzählt er, und dass er einsam und traurig gewesen sei.
    Auch bei Ceylans lebten die beiden jüngeren Kinder, Sibel und Züleyha, in der Türkei bei Großmutter und Tante, während die älteste Tochter Emine bei den Eltern in Deutschland war. Und sie war anfangs durchaus nicht begeistert, als nach zwei Jahren ihre Schwestern nach Bremen kamen und sie die Eltern mit ihnen teilen musste.
    Züleyha hat positive Erinnerungen an das Leben bei der Großmutter und sie sagt, es habe sie nicht belastet, ‚zurückgelassen worden zu sein‘, aber Sibel fragte sich immer, warum ihre Eltern sie weggeben hatten und war ‚sauer‘ auf sie. Erst mit etwa zwanzig gestand sie sich ein, dass ihre Eltern das nicht gemacht hatten, weil sie sie nicht mochten, sondern weil sie in Deutschland keine Möglichkeit sahen, Arbeit und Kinder gut miteinander zu verbinden, und rbeiten mussten sie, wenn sie sich und ihren Kindern etwas aufbauen wollten.

    ‚Ein Leben lang träumen‘

    Pakize Uslu

    Beide Großmütter wären gern in die Schule gegangen und hätten einen Beruf erlernt, scheiterten aber an den damaligen Lebensumständen. Erst untersagte die Mutter von Fehir Ceylan ihr den Schulbesuch, weil der Schulweg lang war und einen gefährlichen Bach umfasste, und als sie umgezogen waren, verbot ihr Vater, dass sie zur Schule ging. Pakize Uslu hingegen wurde aufgrund eines Irrtums vom Unterricht suspendiert: ein Nachbar unterstellte, sie habe Tuberkulose und aus Angst vor Ansteckung schlossen die Verantwortlichen sie von der Schule aus. Sie gaben ihre Schuluniform einem anderen Kind, und Pakize Uslu schaute ihr einfach hinterher. Noch heute, nach Jahrzehnten, springt im Interview Pakize Uslus Trauer über diese Willkür auf die Zuschauer*innen über und sie fragt: ‚Keiner forderte für dieses Kind sein Recht ein, keiner fragte: ‚warum wird sie suspendiert‘. In Deutschland gingen sie mutig aus dem Haus, sprachen mit anderen und lernten Lesen aus Zeitungen. Deutschkurse wie heute waren unbekannt. Schreiben brachte Fehir Ceylan ihre Tochter Emine bei. Ein wenig surreal fand die Tochter das, eigentlich sollte es ja umgekehrt sein. Aber die Mutter sei sehr wissbegierig und dankbar gewesen und hätte die Töchter immer sehr ermutigt, sich um ihre Schulaufgaben zu kümmern. Lernen hatte einen großen Wert in den Familien.
    Fehir Ceylan und Pakize Uslu konnten ihre Träume nicht ausleben, sie schafften es dennoch, in Deutschland ihren Weg zu finden. Es ist ihre zweite Heimat, sie sind froh, geblieben zu sein. Gleichzeitig binden sie Familie und Freunde weiterhin an die Türkei und sie sind glücklich, wenn sie den Ort, an dem sie geboren sind, immer wieder besuchen.

    Antakya und das Erdbeben vom 6.2.2023

    Die Familie von Pakize Uslu hat dort im Südosten der Türkei bis zum Erdbeben von 2023 eine Wohnung und ein Haus besessen, aber das Viertel wurde stark zerstört, und es ist nichts mehr vorhanden von dem, was war. Das Gebiet gehörte zu den am stärksten vom Erdbeben betroffenen Gegenden. „Als ich vom Erdbeben gehört habe, ist eine Welt für mich zusammengebrochen“, sagt Pakize Uslu. „Die Arbeit von 57 Jahren einfach weg, das Haus weg, die Träume weg, alles weg. Ich hatte dort immer einen Wohlfühlort und viel Besuch von meinen Verwandten. Die haben jetzt auch keine Bleibe mehr. Es war wie der Weltuntergang. Aber zum Glück hatte ich immer auch einen Fuß in Deutschland, sonst wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr da.“

    Stadtbibliothek Herzogenried, März 2025

    In der Stadtbücherei endet nach 45 Minuten der Film. Pakize Uslu und Fehir Ceylan haben die Zuhörer*innen beeindruckt. Es ist ein Porträt über zwei starke, unglaublich mutige Frauen, die widrigen Umständen getrotzt und sich ein gutes Leben erarbeitet haben. Zwei Frauen, die eine große Wärme ausstrahlen und das Leben nehmen, wie es kommt. „Kismet“ nennen sie es manchmal, „Schicksal“.
    Aber es ist mehr als das: Sie wollten für sich und ihre Familie ein gutes Leben erreichen und waren bereit, dafür zu arbeiten und sich nicht entmutigen zu lassen.
    Auch wenn es öfter schwer, manchmal sehr schwer war. Das beeindruckt und macht auch Mut.

    Merve, vielen Dank für diesen anrührenden Film.
    Und vielen Dank auch an die Kolleginnen der Stadtbibliothek, die uns alle nach Film und Nachgespräch mit einem türkischen Buffet kulinarisch so wunderbar verwöhnten.

    Text: Monika Schleicher
    Fotos: Michael Baier

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